“Auf der Suche nach der perfekten Fuge…” von Henning Rauert, bdia Sachverständiger

Die Sachverständigentätigkeit der Innenarchitektin/ten ist wesentlich umfangreicher und bedeutsamer als allgemein üblich oder auch in Fachkreisen bekannt. Im Mittelpunkt einer beruflichen Tätigkeit als Sachverständige Innenarchitektin/ten stehen natürlich Schäden im Innenausbau oder wie es so schön heißt: „Raumbildende Ausbau“. Dieser Begriff wurde in der aktuellen Fassung der HOAI durch „Innenräume“ ersetzt. Wie immer man das Kind nun beim Namen nennt: definitiv ein zukunftsfähiges Teilgebiet im Bauwesen. Trotz dieser Fülle an Auftragspotential für die Tätigkeit als sachverständige Innenarchitekten im privaten Rahmen der Bautätigkeit, für Zivilprozesse, für die Versicherungswirtschaft oder in der Meditation gibt es immer noch nicht genügend Sachverständige aus unserem Bereich.

Gründung, Statik, Fassade – und dann?

Jenseits dieser typischen Hochbauthemen beginnt die Arbeit der Innenarchitektur-Sachverständigen und oftmals sind sogar gerichtlich beauftragte Ergänzungsgutachten nötig, wenn gutachterlich tätige Hochbaukollegen nicht über das gesamte „Wissensspektrum Innenräume und Innenausbau“ verfügten.
Mein Plädoyer: Überlassen wir Anderen nicht unser Feld! Wir sind die Spezialisten für unsere Honorare, Baukosten und Preisbewertung, Schlussrechnungen, Hotels, Restaurants, Küchen und Großküchen, für alle Formen des Gewerbe-, Laden- und Messebaus, Möbeldesign, Wohnen und Barrierefreiheit, Baubiologie und Kontaminationen im Innenraum, Krankenhausinnenausbau und Arztpraxen, Laboreinrichtungen und Reinräume, Materialien, Oberflächen, Lichttechnik, Brand- und Schallschutz, Investitionsrückstände, Sanierung und Denkmalschutz. Und wir können mit unserem Sachverstand – spezialisiert durch unsere Berufserfahrung und unsere Neigungen – all diese Bereiche auch bewerten.

Türme sperren, Kreuzfahrtschiffe besichtigen und vor Gericht bestehen

Die Beispiele aus meiner 30-jähringen Tätigkeit als öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger zeigen, dass Sachverständige eine hohe Verantwortung tragen, die Faktenlage beherrschen müssen und auch mit zwischenmenschlicher Kompetenz ausgestatten sein sollten, da deren Input wichtiger Dreh- und Angelpunkt in Streitigkeiten sein kann – nicht selten verbunden mit hohen Geldsummen, massivem Zeitdruck und jeder Menge emotionalem Ballast.

In einem Bürohochhaus in München kippten ohne besondere Vorwarnung die Deckenelemente aus der Verankerung. Auf der Suche nach der Schadensursache lag es nun in meiner Verantwortung, ob der gesamte Turm gesperrt werden sollte. Alle Räume wurden innerhalb einer Nacht kontrolliert und anschließend provisorisch gesichert – eine vorübergehende Schließung der Arbeitsräume konnte verhindert werden.

Im neuen Bundeskanzleramt in Berlin wurden die ovalen Kabinettstische mit einer mangelhaften Fuge geliefert, die nicht völlig bündig war – ausgerechnet am Sitzplatz des Kanzlers/der Kanzlerin. Die Konstruktion und Erstellung der Tische mussten bewertet und anschließend korrigiert werden.
Der mangelhafte Innenausbau in einem Kreuzfahrtschiff, gebaut auf einer norddeutschen Werft, war Gegenstand eines Rechtsstreites zwischen Unternehmer und Subunternehmer. Ein Landgericht ordnete eine Inaugenscheinnahme vor Ort an und somit eine Reise in den Mittleren Osten, denn das Kreuzfahrtschiff lag im Hafen von Dubai fest.

Wenn ein gerichtlich beauftragtes, schriftliches Gutachten im Gerichtstermin erläutert werden muss, bedeutet dies oftmals vor allem: „Ruhe bewahren“. Sachverständige vertreten die reine Faktenlage und sollten sich nicht von eindringlichen Befragungen irritieren lassen. Wann ist zum Beispiel der Grad einer optischen Beeinträchtigung „sehr wichtig, wichtig, eher unwichtig oder ganz unwichtig“? Wann ist eine Fuge perfekt – und wann nicht? Welche Abweichungen innerhalb eines grauen Farbtons sind annehmbar, welche nicht? Ein Jurist kann und sollte diese Fragen nicht beantworten. Man streitet sich also über Geschmack? Keineswegs. Gestaltungsfragen sind selbstverständlich auch mit Fakten und einer klaren fachlichen Haltung darstellbar und zu beurteilen.

Jungen Kolleginnen und Kollegen möchte ich raten, sich ernsthaft mit dem Themenfeld Sachverständigenwesen als Ergänzung zur klassischen Planer- und Gestaltertätigkeit auseinanderzusetzen. Es bietet viel inhaltliches und wirtschaftliches Potential und die Praxis ist bei weitem nicht so papierstapelverstellt, verstaubt und zäh wie ihr Ruf – im Gegenteil: die neutrale Begleitung baufachlicher und gestalterischer Herausforderungen heißt Menschen begegnen, Fachwissen anwenden und Verantwortung übernehmen.

Henning Rauert Architekt und Innenarchitekt BDIA Sachverständiger im BVS Berufsverband öffentlich bestellter und vereidigter sowie qualifizierter Sachverständige e.V.

Der Artikel erschien erstmals in der AIT 10/2014.