bdia ausgezeichnet! Master für Laura Vaccaro: „TIA – neuer Lebensraum für Menschen mit Demenz im jungen Alter“

Masterarbeit WS 19/20 an der Hochschule Mainz
Betreuung: Prof. Markus Pretnar, Prof. Wolf Gutjahr

TIA – NEUER LEBENSRAUM FÜR MENSCHEN MIT DEMENZ IM JUNGEN LEBENSALTER
Irgendwann werden wir alle wieder wie Kinder. Doch was ist wenn Irgendwann schon morgen ist?

Demenz ist eine komplexe Krankheit, welche viele Ursachen, Verlaufsformen und Ausprägungen beinhaltet.
„47 Millionen Menschen sind weltweit von Demenz betroffen. 1,7 Millionen alleine in Deutschland.“1
Dies betrifft nicht nur die ältere Generation, sondern auch junge Menschen bleiben nicht verschont. Von einer Frühdemenz spricht man, wenn erste Symptome vor dem 65. Lebensjahr auftreten und einige Menschen trifft es sogar schon mit 30 oder 40 Jahren. Der frühe Beginn der Erkrankung erhebt neue gestalterische Anforderungen an den Raum und seine Funktionen. TIA ist spezialisiert auf Betroffene vor dem 65. Lebensjahr.

Wenn eine Demenz im jungen Alter auftritt, bringt es besondere Rahmenbedingungen mit sich. Die Betroffenen stehen mitten im Leben, haben wohlmöglich einen Beruf, Kinder und Verpflichtungen. Die Akzeptanz, dass sich etwas bei einem selbst verändert hat ist zunächst verwehrt, aber auch für Ärzte ist es ein langer Weg bis zur Diagnose, da zunächst andere Faktoren in Betracht gezogen werden. Nicht nur für den Betroffenen ist die Erkrankung schwierig, sondern auch für die Angehörigen. Denn die Beziehungen und Rollen verändern sich. “100 von 100.000 Menschen haben Demenz im Alter zwischen 45-65 Jahren.”2 Jedoch fehlen genau für diese Zielgruppe die passenden Angebote. Die Wohnungs- und Aktivierungsmöglichkeiten sind hauptsächlich auf Demenzerkrankte eines höheren Alters zugeschnitten und passen daher nicht ganz auf die Bedürfnisse eines jungen Demenzerkrankten. Dies hat zur Folge, dass sie keinen Anschluss an die Gruppe finden, nicht dieselben Interessen teilen und sich in ihren privaten Zimmern isolieren und nicht mehr an der Gemeinschaft teilnehmen. Dies ist Kontraproduktiv für den Verlauf einer Demenz, da Isolation die Demenz schneller voranschreiten lässt. Gerade auch weil die meisten Frühdemenzerkrankten körperlich sehr fit sind und einen vermehrten Bewegungsdrang haben. Sie könnten sportliche Aktivitäten ausführen, jedoch werden in den Einrichtungen meist nur Sturzprophylaxen für Bewohner eines höheren Alters angeboten, mit der Aussage, dass es für so fitte Bewohner noch nicht nötig wäre. Dies konnte ich auch während meiner Recherchephase bei meinen Praktika in zwei verschiedenen Einrichtungen beobachten. Aber warum erst dann fördern, wenn schon wichtige motorische und kognitive Fähigkeiten verlernt wurden?

1  Qualitätsbeauftragte Klinikum Mittelbaden Hub
2 Rhapsody (Research to Assess Policies and Strategies for Dementia in the Young), Infoblatt 1, Seite 1

TIA befindet sich bewusst im städtischen Kontext um die Bewohner gezielt in die Stadt zu integrieren und einen Austausch zu schaffen.
Ein weiterer Vorteil generiert sich durch die Studentenstadt. Durch Studenten der Medizin, Psychologie, aber auch z.B. Tanzpädagogik bis hin zur Kunst, können freiwillige Helfer gewonnen werden, welche für sich selbst Praxiserfahrung gewinnen und gleichzeitig von den Räumlichkeiten profitieren können. Z.B. kann eine Räumlichkeit als studentische Ausstellungsfläche genutzt werden und wenn keine Ausstellungen stattfinden, Workshops für die Bewohner angeboten werden.
TIA befindet sich auf dem neu erschlossenem Zollhafen Gelände in Mainz. “Dem Stadtquartier der Zukunft”. Aber warum nicht diesem sehr relevantem Problem mit fehlendem Angebot die Chance geben etwas für die Betroffenen und Angehörigen zu tun? Das Grundstück Hafenallee I bildet die beste Grundlage durch die zentrale Lage, den allgemeinen Fakt der Studentenstadt Mainz und die dadurch freiwilligen Helfer.

RAUM DES AUSTAUSCHES
Aktivierung und Sozialisierung zählen zu den Hauptzielen von TIA, weswegen sich der neue Lebensraum im städtischen Kontext befindet, da hierbei auf die Bedürfnisse der jungen Zielgruppe eingegangen werden kann. Um sich in den städtischen Kontext zu integrieren, gliedern sich eigenständige Betriebe oder Vereine in den Gebäudekomplex mit ein. Sie können sich vergünstigt in den Raum des Austausches einmieten, wodurch eine Win-Win-Situation entsteht. Denn die Bewohner des Lebensraums können im Gegenzug an Workshops teilnehmen oder bei Zuarbeiten helfen. Die Räumlichkeiten sind aber gleichermaßen öffentlich zugänglich.
Durch den Vorteil der Studentenstadt können Studenten verschiedener Fachrichtungen z.B. Medizin, Psychologie, Sport etc. mitwirken, gleichzeitig Praxisbezug gewinnen und von den Räumlichkeiten profitieren.
TIA bietet Wohnraum für 36 Bewohner in drei Wohngruppen, welcher sich mit drei Räumen des Austausches kombiniert. Einem Atelier, einem Café und einem Sport- und Tanzstudio.

BEWEGUNGSKONZEPT RAMPE
Aus dem urbanen Kontext wächst der neue Lebensraum  für Menschen mit Demenz im jungen Lebensalter. Die Erschließung ist Teil des Bewegungskonzepts, da Menschen mit Demenz häufig einen erhöhten Bewegungsdrang haben. Das Rampensystem ermöglicht den Bewohnern gefahrlos zu Fuß jedes Geschoss zu erreichen. Die Treppenhäuser und Aufzüge dienen hauptsächlich als Personal- und Fluchtwege.
Zusätzlich werden die Sinnesreize durch Farbwechsel, Licht und Schattenspiele der Herkulesseile und der Begrünung angeregt. Die Farben Gelb, Orange und Rot greifen nicht nur den Sonnenstand auf, sondern sprechen das Langzeitgedächtnis an und werden als angenehm empfunden.
Die Rampe leitet die Bewohner zu den Gemeinschaftsräumen, dem Innenhof und den Räumen des Austausches im Erdgeschoss und dient daher als verbindendes Element zwischen Stadt und Lebensraum. Durch das mehrfache Durchdringen der Fassade entsteht ein Spiel zwischen Innen- und Außenraum.

GEMEINSCHAFT
Die Gemeinschaftsräume sind in jeder WG gleichermaßen verteilt und erstrecken sich über zwei Etagen, wobei die obere Ebene eine Galerie bildet. Die offen gestaltete Wohnküche lädt schon von der Sicht der Stege aus, zum gemeinsamen Kochen und Essen ein. Die Bewohner verpflegen sich mit Hilfe des Personals und den Angehörigen weitestgehend selbst. Das selbstbestimmte Leben steht im Vordergrund bei TIA. Jeder kann für sich entscheiden, wann er beispielsweise aufstehen und frühstücken möchte.
Jede Wohngruppe ist eine Woche lang für eine Mahlzeit am Tag zuständig, welche sie für alle drei Wohngruppen zubereitet. Somit treten die drei WG in regelmäßigen Kontakt. Die Bewohner werden zum Mithelfen animiert und können an der großzügigen Kochinsel interagieren.

GALERIEN
Das obere Geschoss der Gemeinschaftsräume ist je Wohngruppe in drei unterschiedliche Galerien aufgeteilt, um möglichst viel Abwechslung zu bieten und um die Wohngruppen miteinander zu verbinden. Die Positionen der Galerien sind nach der Funktion des Raumes und dem Sonnenstand angeordnet.

  • MUSIK – In der Galerie der gelben WG ist ein Musikzimmer eingerichtet, welches zum Singen und Musizieren einlädt. Besondere Vorzüge hat es, wenn Angehörige oder freiwillige Helfer dieser Galerie einen Besuch abstatten und beispielsweise durch das Spielen von Instrumenten die Bewohner zum musizieren anregen.
  • KINO – Der Kinosaal der WG 2 lädt zu gemütlichen Abenden in Geselligkeit und auch zum Kinoevent mit dem gesamten Lebensraum ein.
  • SPIELEN – Menschen mit Demenz haben häufig einen gestörten Tag-Nacht-Rhythmus. Nachteulen werden bei TIA nicht ruhig gestellt, denn jeder kann hier selbst bestimmen, wann er wach sein möchte. Unter anderem für späte Stunden steht eine Spielzone bereit mit einer vielfältigen Auswahl.

AUSGÄNGE UND PRIVATE RÄUME
Menschen mit Demenz nehmen die Atmosphäre in einem Raum intensiv wahr und ihre Wahrnehmung unterscheidet sich oftmals von der ihrer Mitmenschen. Somit spielt TIA mit Kontrasten und den Auswirkungen von Farbe und Materialität. Sie werden hierdurch geleitet und beispielsweise vor Gefahren bewahrt.
Keine der Ausgänge sind verschlossen, denn jeder kann freien Willens gehen. Durch die Wirkung des Raumes wird das Hinlaufen verhindert, denn Demenzerkrankte nehmen den einfacheren und zuerst ersichtlichen Weg. Außerdem gehen sie ungern in dunklere Bereiche. Mit diesen Mitteln können die Ausgänge bearbeitet werden und das Hinlaufen durch räumliche Gegebenheiten erschweren. Diese Beobachtungen macht sich TIA zur Hilfe und leitet somit die Bewohner.

PERSONAL
Um zu 100% für die Bewohner da sein zu können, benötigt das Personal einen Rückzugsort, um vorzubereiten, abzuschalten und zu Ruhen. Die Wahrnehmung der Materialität des schwarzen Seidenholzes, kombiniert mit der engmaschigen Lattung, sorgt für Überforderung und kurzzeitige Desorientierung.
Das Personal ist prinzipiell nur Gast des Hauses und wird von den Angehörigen und Bewohnern beauftragt. Die Angehörigen sind sehr in den Lebensraum involviert und müssen keinerlei Besuchszeiten einhalten.

BEWOHNER
Jede Wohngruppe besitzt drei Wohnbereiche mit  einer vierer Wohnkonstellation, worin jeder Bewohner sein privates Zimmer mit eigenem barrierefreiem und demenzgerechtem Bad hat.
Isolation lässt die Demenz voranschreiten. Um dem entgegen zu wirken, gibt es bei TIA ein an das Problem angepasstes Raumkonzept. Durch verschließbare Schiebetrennwände können die Räume bei Bedarf geöffnet werden. Dies kann zum Beispiel im Fall der zunehmender Bettlägerigkeit sein. Somit bekommen auch Personen der fortgeschrittenen Demenz ihre Umgebung mit und steigern die Aufmerksamkeit und  die Wahrnehmung.

Die Zimmer werden von den Bewohnern und Angehörigen eigenständig möbliert. Somit können Erinnerungsstücke mitgebracht und Gewohntes wiedergefunden werden. Dies sorgt für Vertrautheit und Wohlbefinden in den eigenen vier Wänden. Die Fensterfronten sind mit Einbauten versehen, welche ein Regal, eine Garderobe und eine Fensterbank mit Sitzmöglichkeit beinhalten. In die Fensterbank integriert sich ein ausziehbares Bett. Somit kann auch problemlos Besuch in jedem Zimmer empfangen werden.
Laura Vaccaro


Jury: Daniela Sachs Rollmann | Vorsitzende bdia LandesverbandRheinland-Pfalz/Saarland, Michaela Neugebauer | Brand Interiors, Irene Maier | Vize-Präsidentin bdia, Pierre Grün, Sabine Waschbüsch
Jurybegründung: Fachwissen im Entwurf eingearbeitet – positive Wirkung von Farbe, Licht und Materialien auf die spezifischen Bedürfnisse der Bewohner umgesetzt