Wie nehmen wir Raum wahr? Interview mit Professorin Karin Paula Sander, Rosenheim

Prof. Karin Sander, Hochschule Rosenheim
Prof. Karin Sander, Hochschule Rosenheim

„Gestaltete Räume unterliegen einem komplexen Wahrnehmungsvorgang. Dieser wird durch parallele, interagierende Prozesse gesteuert. Zunächst ist da die Wahrnehmung der physischen Präsenz des Raumes – Ort, Kontext und Erscheinung. Gleichzeitig löst der reale Raum unmittelbare, emotionale Reaktionen hervor. Themen wie Kultur, Tradition, Heimat und Erinnerung prägen die Ausrichtung der spontanen Reaktion. Die dritte Kategorie ist dann der kognitive Wahrnehmungsprozess. Hier erkenne und verknüpfe ich meine individuell im Gehirn abgelegten Daten (Raumerfahrungen) mit der Raumsituation. Meine persönlich angelegten Wahrnehmungsmuster bilden also eine Art Basis, die sich ständig weiter entwickelt und sensibilisiert. Mit diesen Referenzen beurteile ich die wahrzunehmende Situation, ordne sie ein und trete in den Dialog. Raumwahrneh-mung verändert sich durch Standpunkte und findet dynamisch statt. Sie ist ein aktiver Prozess und sie wirkt sukzessiv.“

Jeder nicht-natürliche Raum entsteht durch Gestaltung. Was sind unsere elementaren Bedürfnisse an den (gestalteten) Raum?
„Schutz, Sicherheit, Geborgenheit, Rückzug, Leben und Kommunikation….. sind sicherlich die naheliegenden Antworten, wenn es um den privaten Raum geht. Gleichermaßen befriedigt er aber auch Bedürfnisse der Freiheit und Unabhängigkeit, trägt zur persönlichen Entfaltung und Selbstreflexion bei. Raum definiert sich durch Grenzen und es ist uns Menschen eigen, Grenzen zu setzen und diese dann wieder zu überwinden. Der begrenzte Raum für sich alleine ist schon elementares Bedürfnis und Bedingung zum Leben und wesentlich, um Dinge aus der Außenwelt zu relativieren.“

Welche Kriterien sind ausschlaggebend für eine positive Raumwahrnehmung?
„Ein qualitätsvoller Raum muss „stimmen“ und selbstverständlich sein. Selbstverständlichkeit schafft eine Art Vertrauen und bietet gleichzeitig individuelle Freiräume und Assoziationsmöglichkeiten. Eine positive Raumwahrnehmung basiert also nicht nur auf einer guten Raumanatomie, sondern ebenso auf vielschichtigen Wechselbeziehungen zwischen Objekt und Subjekt. Beide müssen miteinander kommunizieren und aufeinander reagieren können. Die beidseitige Reaktionsfähigkeit bestimmt die Qualität des Raumes.“

Wie sehr prägen und individualisieren uns Räume?
„Raum beeinflusst unser Verhalten und kann dieses kontrollieren und regulieren. So wie wir uns Räume aneignen, passen wir uns dann auch den Räumen an. Von der ersten bis zur letzten Sekunde unseres Lebens prägen uns dadurch Räume. Bei guter Architektur geht es also permanent um Dialog, Inhalte und Anpassungsfähigkeit.“

Welche Bücher oder Filme empfehlen Sie Ihren Studentinnen und Studenten zum Thema?
„Häufig empfehle ich meinen Studenten Literatur, Filmbeiträge, Ausstellungsbesuche etc. zu diesem zentralen Thema, denn es ist unsere Aufgabe, die materiellen und immateriellen Raumbeziehungen zu choreographieren. Neben der Inspiration, ist das Wichtigste, dabei die Fähigkeit des genauen Beobachtens zu schulen, Zusammenhänge zu verstehen und dadurch im Planungsprozess zu überraschen.“

Karin Sander ist Professorin für Visuelle Kommunikation an der Fakultät für Innenarchitektur, Hochschule Rosenheim.
www.innenarchitektur.fh-rosenheim.de
Erschienen in der AIT 9/2015