ECIA Konferenz „Substance – Research in Interior Architecture“ in Oslo
Am 24. und 25. April 2025 fand an der Kristiana Universität in Oslo die zweitägige hybride Konferenz des European Council of Interior Architects (ECIA) statt, die Innenarchitekt*innen, Wissenschaftler*innen und Studierende aus ganz Europa zusammenbrachte, um die vielfältigen Aspekte der Forschung im Bereich Innenarchitektur und Interior Design zu diskutieren. Die Konferenz widmete sich den Inhalten, Rahmenbedingungen und Diskursen der Forschung in der Innenarchitektur. Vor Ort vertreten wurde der bdia vom Präsidenten Carsten Wiewiorra, von bdia Innenarchitektin Sophie Green sowie dem bdia Innenarchitekten und bdia Delegierten für den ECIA René Pier, der für uns die Konferenzinhalte und Erkenntnisse zusammengefasst hat:
In der Englischen Ableitung des Wortes „substance“ findet sich der Begriff „essence“, aber auch in weiteren Wortbedeutungen und Synonymen oder Nennungen wie „framework“. Begriffe aus demselben Ursprung lieferten die Titel der zwei Themenfelder, unter denen sich die Vortragenden versammelt haben. Die dritte Runde bezog sich auf eine Methodik der Forschung und zwar Transdisziplinarität und Diskurs, „discourse“. Soweit erklärt sich die abgestimmte Herleitung des Titels und Konzeptes der Konferenz. Die Auswahl und Themen der Vorträge verstärkten diese Suche nach Antworten auf Fragen, die sich die Forschung in der Innenarchitektur stellt. Im Deutschen spannt die Synonymie von „Substanz“ einen Bogen von konkreter Materialität bis zu abstrakter Wesenhaftigkeit. Diese semantische Vielschichtigkeit macht den Begriff zu einem Schlüsselterminus europäischen Denkens, der ständig zwischen Sein und Schein, Materie und Idee vermittelt.
So kann man auch die ersten Vortragenden im Themenfeld „essence“ als diejenigen bezeichnen, die durch Extraktion zur Essenz unserer Disziplin vordringen.
Vésma Kontere McQuillan eröffnete den Konferenzteilnehmenden einen Einblick in die Welt der Defilees der großen Modehäuser und speziell bei PRADA. Dort verbindet sich die Theorie des ephemeren Raums mit Elementen von Traum und Überwindung des Alltäglichen. Sie zitierte Rem Kohlhaes, den Sie persönlich über den Hintergrund zu seiner Aussage befragen konnte, was einen immersiven Raum ausmacht: »Luna Park is the first manifestation of a curse that is to haunt the architectural profession for the rest of its life, i.e., the formula: Technology + cardboard (or any other flimsy material) = reality.« – Rem Koolhaas, Delirious New York (1978)
Torsten Hild hingegen zeigte auf, das Handwerklichkeit, „craftyness“, zu einem tiefen Verständnis über Materialität führen kann. Das Material Holz zum Beispiel kann nur in der Art wie es vom Studierenden selbst bearbeitet wird, als solches verstanden und somit das innewohnende Lebendige erfasst werden. Der von Ihm betreute Studiengang verfolgt den Weg der Kommunikation mit dem Material als Ausgangsbasis für den Entwurf. Nicht länger steht die Idee steht im Vordergrund, sondern aus den inhärenten Eigenschaften des Materials ergeben sich Lösungsansätze für Fragestellungen in einem iterativen Prozess.
Albert Fuster Marti verfolgt einen ähnlichen Ansatz in der Entwurfstheorie, in der wir als Menschen nicht länger als die Former der Umwelt auftreten können, ohne die Prinzipien der lebendigen und feststofflichen Welt zu respektieren. Eindringlich zeigte er an einem Beispiel zur Gestaltung einer U-Bahn-Haltestelle in Mailand auf, dass ein miteinander mit der Natur nicht in der Setzung eines Randsteins als Einfriedung von Grasbewuchs liegen kann. Der Kontakt von Menschen mit der unmittelbaren Umgebung zeigt sich in deren Umgang mit dieser Umgebung. Das führte zur Frage, was der Standort selbst über seine Verwendung „erzählt“ und wie dieses Narrativ durch eine Gestaltung unterstützt wird. Er bezog sich dabei auf den Begriff: „situative knowledge“ – Donna Haraway 1988
Siv Stangeland als letzte in diesem Panel griff die vorangehenden Methoden auf und vervollständigte deren Erkenntnisse durch ihre ureigene Herangehensweise an Projekte. Durch freie Handzeichnungen, die sie selbst oder in Dialogform als Teil von partizipativen Verfahren anfertigt, wird das Zeichnen ein Ausdruck von tiefer verständnisvoller Kommunikation. Innenarchitekt*innen werden durch solche Techniken zu Medien, die Anforderungen an Gestaltung der Nutzenden in wahrhaftige Räume transformieren.
In allen der präsentierten Beiträge wird klar, dass Innenarchitekt*innen eine eigene Entwurfsmethodik entwickeln und in eigener Weise Räume entwickeln, die nah an den Nutzenden ausgerichtet sind.
Während in Deutschland der Doktor in der Innenarchitektur extrem selten angestrebt und vor allem noch seltener zum Erfolg geführt wurde, gibt es in Belgien einen größeren Zulauf, der sich über die Universität von Antwerpen ausbreitet. Inge Somers war eine der ersten, die sich auf diesen Weg gemacht haben und Ihre Promotion erfolgreich verteidigen konnte und in ihrem Vortrag die Methodik erklärte. So entsteht an diesem Ort eine Keimzelle für die Forschung über das Wesen der Innenarchitektur und der gesellschaftlichen Stellung der Disziplin. Ein erhebender Moment entstand durch die Tatsache, dass die große Theoretikerin Ellen Klingenberg, auf die sich viele Vortragende beziehen, persönlich an der Konferenz teilnahm.
Als zweite Rednerin in diesem Teil der Konferenz erläuterte Carola Ebert wie sich Forschung in der Innenarchitektur bestimmen und definieren lässt. Verschiedene Herleitungen und Annäherungen an das Thema wurden miteinander verwoben, so dass ein konkreter „Stoff“ entstand, der durch die individuelle Ausformung und vielfältiger Handlungsfelder Lust auf Forschung machen soll.
Chiara Lecce zeigte wiederum auf welche lange Geschichte der Forschung und der Promotionen an unterschiedlichen Instituten der Politecnico di Milano zurückgeblickt werden kann, um Impulse für Promotionen in anderen europäischen Ländern zu entwickeln.
Als letzte Rednerin dieser Reihe konnte Suzie Attiwill mit Ihrem Programm an der RIMT in Melbourne Türen öffnen für alle, die auf eine langjährige Erfahrung in der Innenarchitektur zurückblicken können und dieses Praxiswissen in Form einer Dissertation der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen wollen. Auf diese Weise entwickelt sich das Wissen aus der Praxis weiter und wird gemeinsam mit den Errungenschaften aus der Grundlagen- Forschung und Theorie zur breiten Basis für die Disziplin der Innenarchitektur.
Im dritten Teil, in dem es vor allem darum ging, dass Innenarchitektur per se eine Disziplin des „Dazwischen“ ist, zeigte Michael Heinrich die Rahmenbedingungen auf, in denen Menschen in der Lage sind Ästhetik zu objektivieren und so anwendbar zu machen. Mit Ausflügen in Felder der Salutogenese und der Beeinflussung durch Räumen auf die menschliche Seele wurde ein Bogen gespannt, der aufzeigte, wie die empirischen Methoden der Forschung auf Innenarchitektur übertragen werden können und wie relevant der Austausch der Innenarchitektur mit anderen Forschungsgebieten ist.
Den Abschluss der Vortragsreihe und emotionaler Höhepunkt des Tages gestaltete Tüüne Kristin Vaikkla mit ihrem Plädoyer für eine soziale Innenarchitektur. Die Umwidmung und das Weiterbauen von bestehenden Bauten sind immer begleitet von sozialen Bindungen an die jeweiligen Orte. Dieser „social activism“, diese soziale Handlungsweise ist für die Innenarchitektur ein dialogischer Partner im Entwurfs und Gestaltungsprozess. Eindrücklich zeigte sie an dem Beispiel einer aufgelassenen Kirche in Estland, wie vielfältig die Suche nach einer Nutzung der vorhandenen Substanz sein kann, wenn dies in Teilhabe und Kreativität betrieben wird. Räume können auch allein durch prägnante Töne belebt werden und so die spätere Nutzung antizipieren. Wir Menschen haben diese sensorisch getriggerte Vorstellungskraft, die mental eine Planung vorwegnehmen kann und die spätere Akzeptanz der baulichen Umsetzung erhöht.
Die Keynote des Konferenztages hielt Graeme Brooker und bekannte sich zu der Aussage: „I am a Re-User“. Der Begriff „substance“ wurde von Ihm von drei Seiten beleuchtet. „depth“, „material“ und „technique“. Provokant war sein Exkurs über Abfall, den er mit dem Bild des FATBERG begonnen hat, einem tonnenschweren Klumpen, der in der Londoner Kanalisation gefunden wurde und von dem kleiner Teil anschließend, perfekt konserviert seinen Platz im Stadtmuseum gefunden hat. Sein Credo lautet, dass es keinen Abfall geben darf, sondern alles was uns umgibt ist Wertstoff, aus dem sich zukünftige Nutzungen abzuleiten haben. Zur Bestätigung dieses Manifestes, zeigte er Fotos zur Technik des „mud larking“ eine lizenzierte Arbeit, die seit Jahrhunderten in London gemacht wird. Sein Bruder hat diese Lizenz und sammelt Wertgegenstände aus dem Themseufer, die zum Teil noch aus römischer Zeit stammen. Zusammenfassend zeigte er Studienarbeiten aus seiner Lehre, in denen alltäglicher „Wegwurf“ zu erstaunlichen neuen Produkten und Gestaltungen verwendet wurde.
Mit diesen Gedanken schloss der erste Tag der Konferenz und zeigte die Reichhaltigkeit, die unsere Disziplin hervorbringen kann und welche Forschungsfelder noch darauf warten von uns bestellt zu werden.
Der zweite Konferenztag stand ganz im Fokus der Ergebnisse des mehrjährigen Prozesses der sechs Projekte, die durch Mitglieder des ECIA ausgearbeitet und durch das EU Programm Creative Europe gefördert wurden. Die Fördermaßnahme trägt den Titel: „Building on Connections for a Stronger Profession“ BSCP, welches gezielt die Professionalisierung und Vernetzung innerhalb der Architektur- und Designberufe unterstützt. Um die Disziplin Innenarchitektur und deren Stellung in den 18 Mitgliedstaaten zu erfassen, wurde eine Studie bei der Universität Antwerpen in Auftrag gegeben. In sogenannten „spider models“ können nun die ausgearbeiteten Parameter der Regulierung des Berufsstandes, in Bezug auf Ausbildungstand, juristische Anerkennung der Berufsbezeichnung und professioneller Organisationsformen vergleichend visualisiert werden. Um die 173 Seiten starke Studie, die an diesem Tag von Els de Vos veröffentlicht wurde im Detail wiederzugeben benötigt es einen eigenen Bericht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es einige wenige Länder mit einer starken Regulierung gibt, darunter Deutschland und die Niederlande und viele andere Länder mit unterschiedlichen Bewertungen der drei Parameter. Das zeigt sich auch an der Kontroverse in Großbritannien, dort ist der Titel „architect“ so stark geschützt, dass es keine Zusätze zu diesem Titel geben darf. Daher wird in diesem Land die Bezeichnung „Interior Design“ für Innenarchitektur verwendet. Um also einer Berufsanerkennung durch die EU Kommission näher zu kommen sind daher einheitlichen Regeln für die Ausbildung notwendig und eine Übereinkunft, wie und mit welcher Bezeichnung der Titel geschützt werden kann. Der sollte dann übereinstimmend „Interior Architect“, wie im Deutschen Innenarchitektin und Innenarchitekt heißen.
Ein weiteres Projekt, welches auf dieser Konferenz das erste Mal an den Start ging ist das ATLAS ARCHIVE, eine mächtige Plattform, die das Wissen um Innenarchitektur teilen und für alle verfügbar machen soll, vorgestellt von Miriam Dreyer und Graeme Brooker . https://ecia-atlas.net Über zwei unterschiedliche „recherche buttons“, kann man entweder durch alle Beiträge navigieren oder sich treiben lassen. Das ATLAS ARCHIVE ist ein open source verfügbares Programm mit multiplen Zugängen, auf die Inhalte hochgeladen werden können. Die Verwertungsrechte liegen und verbleiben dort, wo diese verwaltet sind, sie werden nur über das ATLAS ARCHIVE verknüpft. Neben dieser Plattform bildet die ATLAS Serie „exchganging knowledge“ einen vielseitigen Einblick in die Tätigkeit von Innenarchitektinnen und Innenarchitekten, welche über Interviews und Impulsvorträge gewährt werden und natürlich auch im ATLAS ARCHIVE verfügbar sind.
Marianne Daepp konnte ihre Ergebnisse des groß angelegten Rekrutierungsprogramms „growing the network“ aufzeigen, in dem neue Mitgliedstaaten in den ECIA integriert werden konnten. Insbesondere Polen hat sich durch eine hoch professionelle Präsentation als Mitglied qualifiziert. In anderen Staaten hilft der ECIA Strukturen aufzubauen und den Berufsstand dadurch in das Bewusstsein zu holen und Mitstreitende zu unterstützen.
Anknüpfend an die Studie über die Regulierung des Berufsstandes wurde die Charta zur Innenarchitektur Ausbildung durch René Pier als Mitglied der Arbeitsgruppe vorgestellt. Die Charta kann Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen eine Hilfe sein, Programme und Curricula aufzusetzen, die im Kontext der allgemeinen Anerkennung des Berufes stehen. Die Charta ist ganz bewusst aus der Perspektive der Praxis geschrieben worden und zeigt auf wie vielfältig der Beruf ausgeübt werden kann und welche Fähigkeiten und Fertigkeiten dazu nötig sind.
Den Abschluss der Konferenz bildete die Rede des ECIA Präsidenten Martin Thörnbloom, der auf das erreichte zurückblickte und daraus ableiten konnte, dass dies nur der Anfang sein konnte. Nun geht es darum Anschlussfinanzierungen zu akquirieren, um die Projekte am Leben zu halten. Auch der ECIA hat sich durch die EU Förderung professionalisiert, so dass der Bedarf nach mindestens zwei Vollzeitstellen besteht.
Bevor dann der Tag mit einer ECIA Award Party mit der Verleihung des Europäischen Innenarchitekturpreises endete, wurden die Teilnehmenden zu drei realisierten Projekten norwegischer Innenarchitekturbüros geführt. Diese Besichtigungstour wurde vom norwegischen Innenarchitekturverband NIL organisiert und betreut, der an demselben Abend auch sein 80 jähriges Bestehen feiern konnten. Die drei Projekte zeigten auf, wie weit die Wiederverwendung von Mobiliar und Ausbauelementen gehen kann, ohne museal oder rückwärtsgewandt zu wirken. Im Gegenteil machte gerade die Mischung aus bestehender Architektur und tektonischer Struktur, den „geschürften“ Materialien und den Neukompositionen den besonderen Reiz aus. In den anschließenden Diskussionen wurden aber dieselben Widerstände aufgezeigt, die wir in Deutschland aus unserer Beschäftigung mit der Widerverwendung kennen. Wie werden Bauteile, die im eingebauten Zustand zertifiziert sind nach dem Ausbau bewertet, wo werden Materialien nach dem Ausbau gelagert und wie werden Materialien sortenrein getrennt und wieder demontierbar eingebaut?
Diskussionen und Gespräche, die nie enden wollten, bestimmten die beiden Tagen und machen Lust auf mehr Austausch in Europa, um die Vielfalt und Großartigkeit unseres Berufsstandes Innenarchitektur zu feiern.
Die Konferenz soll zukünftig in einem Zweijahresrhythmus veranstaltet werden.