„Gestern wird schön. Morgen auch.“ Eine Masterarbeit über das Bauen für Menschen mit Demenz von Valerie Rehle, Stuttgart
Mein Beweggrund, mich in meiner Masterarbeit mit dem Thema Demenz zu beschäftigen, war ein sehr persönlicher. Als Enkelin eines Großelternpaares mit Demenz des Typs Alzheimer, stellten sich mir viele Fragen – nicht nur als Familienangehörige, sondern auch als Innenarchitektur-Studentin. Zum einen war da die zunehmende Schwierigkeit meiner Großmutter sich in den eigenen vier Wänden zu orientieren oder verlegte Gegenstände wieder zu finden, zum anderen konnte ich feststellen, dass die Intuition bei Menschen mit Demenz eine neue Bedeutung gewinnt.Im Verlauf einer Demenz vergisst der Betroffene nach und nach Fähigkeiten, die er einst gelernt hat. So fällt es immer schwerer, sich Dinge zu merken, sich zu orientieren, zu kommunizieren oder Gesichter und Gegenstände zu erkennen. Die irdische Welt lässt sich gedanklich nicht mehr begreifen.
Mit dem Nachlassen der kognitiven Fähigkeiten rücken die sensorischen und motorischen Abläufe in den Vordergrund, aber auch Emotionen und Gefühle. Menschen mit Demenz handeln oft intuitiv. Dem Betroffenen gelingt es immer weniger, Gedankengänge „richtig“ miteinander zu verknüpfen. Problemstellungen werden nicht rational gelöst indem auf einen breiten Erfahrungsschatz zurückgegriffen wird, sondern viel mehr unreflektiert, aus dem Bauch heraus. Das hat zur Folge, dass Handlungsabläufe „anders“ stattfinden und Situationen „anders“ interpretiert werden. Im Umgang mit meinen Großeltern konnte ich feststellen, dass Menschen mit Demenz dennoch im Stande sind, ihre Umwelt den eigenen Bedürfnissen entsprechend anzupassen – vorausgesetzt, das passende Werkzeug steht zur Verfügung.
Nicht am Defizit orientieren
Um seiner Umwelt zu signalisieren, dass er nun seine Ruhe haben möchte, hat mein Großvater seine ganz eigene Ruhezone entworfen (siehe Bild). Ein intuitiver, innovativer und kreativer Akt. Im Gegensatz dazu orientieren sich viele gestalterische Lösungen an den Defiziten des Alters bzw. einer Demenz. Die Gestaltungssprache ist oft sehr klinisch, steril und kühl und wird so assoziativ mit den Begriffen „krank“, „gebrechlich“ und „alt“ in Verbindung gebracht. Es scheint vor allem darum zu gehen, was jemand nicht mehr kann. Wäre es aber nicht sinnvoller zu fragen, was jemand noch kann oder was derjenige braucht, um es wieder zu können!?
Ein dementer Mensch hat, wie jeder andere Mensch auch, ästhetische Bedürfnisse. Eine starke Abneigung gegenüber altersgerechten, stereotypen Produkten ist also sehr gut nachvollziehbar und weist gleichzeitig auf die Notwendigkeit hin, alters- und dementgerechte Gestaltungsprinzipien neu zu überdenken.
Meine Masterarbeit ist als „Senisbilisierungsapparat“ konzipiert, um die Thematik Alter und Demenz in den (innen-)architektonischen Kontext zu setzen und dabei den Fokus auf die Betroffenen zu legen. Die Arbeit untersucht im theoretischen Teil neben den Ursachen und Symptomen unter anderen auch, inwiefern eine Demenz Sensorik und Motorik beeinflusst und welche Rückschlüsse auf räumliche Anforderungen gezogen werden können.
Dabei werden Ansätze aus der Sozialen Arbeit, Soziologie und Gerontologie einbezogen, um mit Hilfe einer interdisziplinäre Betrachtung sinnvolle Lösungsansätze zu generieren. Der zweite Teil besteht aus einer Ausstellungskonzeption, die für das Thema Demenz sensibilisiert Die Sensibilisierung erfolgt in erster Linie durch die Betrachtung von Objekten. Dabei wird weder mit Negativbildern gearbeitet noch eine deprimierende Haltung eingenommen. Viel mehr geht es darum, „die Welt“ von Menschen mit Demenz darzustellen und besser begreiflich machen. Die verschiedenen Objekte erzählen Geschichten, stellen Situationen dar und zeigen dabei auf, wie ein Mensch mit Demenz seine Umwelt wahrnimmt und wie er sie „versteht“. So zeigen zum Beispiel verschiedene Blumenarrangements (siehe Bild) wie ein eigentlich „einfacher“ Vorgang, nämlich Blumen in eine Vase zu stellen, unterschiedlich interpretiert werden kann. Logik und Kreativität bekommen durch Demenz eine neue Bedeutung.
Das Umfeld muss sich anpassen, nicht der Mensch
Wir sollten Alter und Demenz als Herausforderung und Chance zugleich begreifen, um sowohl unser Gesellschaftsbild wie auch unsere Gestaltungsprinzipien neu zu überdenken. Es gibt bereits eine Vielzahl an innovativen und nutzergerechten Konzepten, welche die Bedürfnisse einer älter werdenden Generation miteinbeziehen. Dennoch geht es nicht darum, eine allgemeingültige Antwort zu finden wie Lebensräume für alte und explizit demente Menschen auszusehen haben. Normen und Gesetze allein sagen weder viel über die biologischen, physiologischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse eines alten bzw. dementen Menschen aus, noch berücksichtigen sie die Heterogenität. Vielmehr geht es darum, Strukturen zu entwerfen, die sich auf individuellen Bedürfnisse flexibel anpassen lassen.
Um Menschen mit Demenz auf ihrem Weg zu begleiten, muss sich das Umfeld, sowohl das räumliche als auch das menschliche, anpassen – nicht umgekehrt. Ein Mensch ohne Demenz kann im besten Falle seine Bedürfnisse äußern – wenn man ihn danach fragt. Ein Mensch mit Demenz kann in der Regel im fortgeschrittenen Stadium seine Wünsche und Bedürfnisse nicht mehr verbal ausdrücken – er hat es verlernt. Es liegt also vor allem an uns Gestaltern, Lösungen für die Bedürfnisse älterer Menschen und Menschen mit Demenz zu entwickeln, damit nicht nur gestern schön wird, sondern morgen auch.
Der Artikel bezieht sich auf die Masterarbeit „Gestern wird schön. Morgen auch. Ein Sensibilisierungsapparat zur Gestaltung von Lebensräumen für Menschen mit Demenz“ an der HfT Stuttgart, 2014.
Weitere Infos unter » www.valerierehle.de
Erschienen in der AIT 10/2015