Arbeits(t)räume

Über das Büro der Zukunft wird viel geschrieben. Fakt ist, dass die Bedeutung der Büroarbeit immer größer wird. Es wird weniger produziert oder mit den Händen geschaffen. Stattdessen wächst der Anteil der Computerarbeit, das Ergebnis bleibt meist unsichtbar. Was macht das aus unseren Arbeitsräumen?

Wo die Digitalisierung Einzug hält, braucht die Gestaltung mehr Spielraum. Wer täglich viele Stunden zusammen an komplexen Projekten arbeitet, der will sich mit seinem Gegenüber wohlfühlen. Lange Arbeitszeiten tun das ihre dazu. Immer mehr Unternehmen sehen in ihren Büros auch ihre Visitenkarte. Innenarchitektur wird zur Markenarchitektur. Design auch eine Prestigefrage. Für uns ist das eine positive Entwicklung, denn es bedeutet viele neue, spannende Projekte.

Der technische Fortschritt ermöglicht völlig neue Arbeitsprozesse. Serverzugriff von zu Hause bedeutet, dass „Home Office“ schon heute oft praktiziert wird. Die Unternehmen sehen, dass sie durch die wachsende Beliebtheit der digitalen Heimarbeit ihre Büros wohnlicher gestalten müssen. Digitales Arbeiten erzeugt außerdem weniger Papierberge. Schöner Nebeneffekt für uns Innenarchitekt*innen: Der Bedarf an Stauraum ist deutlich kleiner geworden. So lassen sich Büroräume und ganze Büroetagen transparenter und offener gestalten. Neben den eigentlichen Arbeitsplätzen und Meeting-Räumen sind Küchen, Pausenräume, Außensitzplätze und Spielbereiche zu sehr wichtigen Arbeitsbereichen zum Austausch und Besprechen geworden. Die entscheidende Frage lautet, wie offen der Mensch für diese Form der Raumgestaltung ist? In einer aktuellen Umfrage befragt das Fraunhofer Institut Arbeitnehmer, was ihnen in ihrer Büroumgebung am wichtigsten sei. Rang eins belegt die Zufriedenheit mit der Möblierung. Es folgen der Wunsch nach geräuscharmer Akustik, Rückzugsmöglichkeiten zur Konzentration sowie Erholungs- und Pausenmöglichkeiten. Auf die Frage nach negativen Aspekten wird ein zu geringer räumlicher Abstand zu Kollegen benannt. Es folgen Störungen durch zu viel Personenverkehr und das Gefühl ständiger Beobachtung am Arbeitsplatz. Die heutigen reversiblen Multi-Space-Konzepte ermöglichen sehr flexible Räume, die Veränderungen im Unternehmen mitmachen. Ein Segen, wenn Abteilungen wachsen. Insgesamt ist in Deutschland noch Luft nach oben: Ein Drittel aller Befragten arbeitet weiterhin in Einzelbüros. Nur rund vier Prozent profitieren von flexiblen Arbeitsplatzkonzepten.

Hineindenken in die Arbeitsprozesse

Zuerst analysieren wir, ganz pragmatisch, die Funktionsabläufe im Unternehmen und die typischen Tätigkeiten. Gleichzeitig machen wir uns ein Bild von den vorhandenen Raumstrukturen. Wir betrachten die Räume im Hinblick auf ihre Proportionen zueinander, ihre Ausrichtung und den Tageslichteinfall. Anschließend geben wir den Räumen Struktur und zonieren die Arbeitsbereiche. Alles noch ohne konkrete Überlegungen was Gestaltung, Farbigkeit und Material angeht, sondern rein nach Funktionalität. Für den neuen Hauptstandort der Zalando Lounge in der Zeughofstraße in Berlin-Kreuzberg prägten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit der Liebe zu ihrer Stadt und ihrem Kiez das Leitsystem für das sechsgeschossige Gebäude. Kleine Besprechungszimmer tauften wir auf Namen bekannter U-Bahn-Haltestellen. „Außen“ um die Etagen herum ließen wir gedanklich die S-Bahn – die Berliner Ringbahn – fahren und benannten die Meeting-Räume nach deren Stationen. Für größere Besprechungsräume und Konferenzsäle standen Lieblingsorte der Zalando Lounge Belegschaft Pate. So kamen viele angesagte Berliner Clubs zu Ehren und Gebäude mit langer Tradition, wie zum Beispiel die Berliner Philharmonie.

Die Menschen im Blick behalten

Bei aller Flexibilität geht es immer um das Wohlfühlen am Arbeitsplatz. Vielen Mitarbeitern ist Beständigkeit wichtig, zu häufige Platzwechsel werden als unangenehm empfunden. Desk Sharing ist Typensache. Es gibt Menschen, die es als Befreiung sehen, jeden Tag einen anderen Arbeitsplatz zu haben, andere empfinden dies als unangenehm und überfordernd.
Aber: Kein Bürobau, bei dem nicht die Technischen Regeln für Arbeitsstätten (ASR) Anwendung fänden. Dort werden nicht nur Flächenbedarfe für unterschiedliche Funktionsräume definiert, sondern auch Bewegungsflächen und die Größe von Pausen- und Gemeinschaftsräumen. Zufriedene Mitarbeiter sind bessere Mitarbeiter. Ganz gleich also, welche Möglichkeiten der technische Fortschritt bringt, den Weg zum Büro der Zukunft weist: der Mensch.

Ingo Haerlin, Innenarchitekt bdia, DESIGN IN ARCHITEKTUR Lautenschläger, Stil, Haerlin, Darmstadt. Der Artikel erschien ungekürzt im bdia Handbuch Innenarchitektur 2019/20.